Locarno 08: «Kisses» von Lance Daly

Shane Curry und Kelly O'Neill in «Kisses»

[Erschienen am 14. August 2008, 9.11] Ich muss mich wiederholen: In wirklich allen Facetten wird in den meisten Filmen des Internationalen Wettbewerbs die Trostlosigkeit zelebriert. Manchmal düster, dann wieder melancholisch. Aber es gibt auch die zuversichtliche Tristesse, wie sie Regisseur und Drehbuchautor Lance Daly, der auch die Kamera führte, in seinem irischen Drama «Kisses» einbaut. Er schildert sozusagen eine Reise der Hoffnung durch Dublin.

Der schweigsame Dylan (Shane Curry) spielt den ganzen Tag Computerspiele, damit er nicht hören muss, wie sich seine Eltern streiten. Als es wieder einmal zu Handgreiflichkeiten kommt und Dylan einschreitet, zieht er den Zorn des Vaters auf sich. Dylan ergreift die Flucht, begleitet von der gleichaltrigen Kylie (Kelly O’Neill) aus dem Nachbarhaus. Es treibt die beiden nach Dublin, wo Dylan seinen vor zwei Jahren verschwundenen Bruder finden möchte.

Kylie hat zuvor noch ein wenig Geld von ihrer Schwester gefunden. So werden die ersten Stunden in der Grossstadt zu einem recht munteren Vergnügen. Doch schnell geht das Geld aus, und je dunkler die Strassen werden, umso fürchterlicher sehen die Nachtgestalten aus. Auch die Suche nach dem Bruder verläuft nicht sehr vielversprechend. Zudem kriegen die Kinder langsam Hunger.

«Kisses» lebt ganz vom Spiel zwischen den beiden jungen Darstellern und den gleichzeitig realistischen, wie auch magischen Eindrücken aus Dublin. Besonders die kecke Kelly O’Neill begeistert durch ihre unverstellte Art. Aber auch für den niedergeschlagenen Dylan konnte Lance Daly eine perfekte Besetzung finden. Geprägt ist der Film aber auch von einer formalen Spielerei: die Szenen im Elternhaus sind noch Schwarzweiss, doch je näher die Kinder Dublin kommen, umso mehr Farbe dringt durch.

Bei seinem bunten Streifzug durch das nächtliche Dublin verschliesst Daly aber keineswegs die Augen vor der Realität. In heruntergekommenen Gebäuden suchen die Kinder nach dem Bruder von Dylan, die Strassen sind schmutzig und die Kartonschachteln verstecken so manche unangenehme Überraschung. Dazwischen lockern aber auch verträumte Szenen die Stimmung auf, wie etwa der Ausflug aufs Eisfeld. Zudem stattet Daly seine Figuren mit den bei Kindern beliebten rollenden Schuhen aus. Dadurch gleiten sie manchmal fast schwerelos durch die Gegend.

Wer sich so viele trostlose Filme hintereinander ansieht, wird auch sehr schnell auf die wichtige Rolle der Musik aufmerksam. «Elle veut le chaos» kommt bis auf ein Lied am Schluss ganz ohne Musik aus. «Luftbusiness» ist mit traurig Gesängen von den Tiger Lillies vollgestopft, die Tom Waits wie einen Schmusesänger ertönen lassen. In «Kisses» dreht sich alles um die Musik von Bob Dylan. Einige seiner Lieder werden eingespielt, dazwischen treiben Songwriter-Klänge die Handlung entspannt vorwärts.

Fazit: «Kisses» ist ein angenehm trostloses Gesellschaftsmärchen mit viel Schwung.

Bewertung: 5 Sterne

Schreib einen Kommentar

You must be logged in to post a comment.