«Chris the Swiss» von Anja Kofmel

Alle sprachen von deinem Tod und ich war stolz, deine kleine Cousine zu sein.

Anfang der 1990er-Jahre wird im Zentrum von Europa ein grausamer Krieg geführt. Mittendrin der Schweizer Journalist Christian Würtenberg. Von dessen Tod an der Front erzählt seine Cousine Anja Kofmel im gleichsam faszinierenden wie verstörenden Dokumentarfilm «Chris the Swiss».

Es hört sich leicht absurd an. Doch 1991 konnte man in der friedlichen Schweiz in den Zug einstiegen und direkt in den Krieg fahren. Auf diese gefährliche Reise machte sich im Herbst 1991 der Journalist Christian Würtenberg, der anschliessend aus Zagreb für diverse Medien über den Kroatienkrieg berichtete. Doch dann trifft Würtenberg eine fatale Entscheidung. Er schliesst sich der paramilitärischen Gruppe First Platoon of International Volunteers (PIV) an. Am 7. Januar 1992 wird sein Leichnam in der Nähe von Vukovar gefunden. Gemäss Autopsiebericht wurde er erwürgt.

Der Tod des jungen Schweizers hatte direkte Auswirkungen auf das Leben eines Mädchens in der Schweiz. Seine Cousine Anja Kofmel war 10 Jahre alt, als sie vom Tod von Würtenberg erfuhr. 2009 verarbeitete sie das Trauma zum Abschluss ihres Studiums an der Hochschule Luzern im animierten Kurzfilm «Chrigi». Das eindrückliche Werk wurde weltweit an zahlreichen Filmfestivals aufgeführt. Auch an der Monstra in Lissabon. Dort traf ich damals die Filmemacherin und stellte sie und drei ihrer Kolleginnen von der Hochschule Luzern in einem Artikel vor.

Knapp zehn Jahre später erzählt Kofmel nun in ihrem Dokumentarfilm «Chris the Swiss», wie der Tod ihres Cousins sie in Albträumen verfolgte. Wie in «Chrigi» hat Kofmel diese Erinnerungen als animierte Szenen verarbeitet. In schwarzweissen Zeichnungen mit klaren Strichen irrt ein Mädchen durch ein Maisfeld, will ihrem Cousin eine Zeichnung schenken. Doch der wird von Heuschrecken-artigen Wesen verfolgt und das Mädchen taucht tiefer in schreckliche Welten ein. Diese Szene ist dem Dokumentarfilm vorangestellt. «Chris the Swiss» ist allerdings nur etwa zur Hälfte animiert.

Der autobiografische animierte Dokumentarfilm erlebte mit «Persepolis» (2007) und «Waltz with Bashir» (2008) seinen Höhepunkt. Für «Chris the Swiss» wählte Regisseurin Kofmel einen leicht anderen Ansatz. Ihr Dokumentarfilm ist ein Hybrid, in dem sie die animierten Sequenzen mit teilweise schockierendem Archivmaterial und Interviewsequenzen mischt, die sie auf einer Reise auf den Spuren von Würtenberg zwischen der Schweiz und Kroatien gesammelt hat. Kofmel redet mit den Eltern und dem Bruder von Würtenberg und mit Weggefährten aus Zagreb, die schonungslos über ihre Eindrücke sprechen. Besonders emotional wird dabei der Bruder von Würtenberg. Selbst mit dem berüchtigten Terrorist Carlos alias Ilich Ramírez Sánchez, der in Paris im Gefängnis sitzt, hat sich Kofmel getroffen.

Den Rest muss sich Kofmel vorstellen. Sie illustriert in prägnanten Bildern die Einträge aus den Notizbüchern des Kriegsreporters auf Abwegen. Irgendwie düster und trostlos, wie es damals wohl war, aber auch poetisch und verführerisch, wie der Krieg auf Würtenberg gewirkt haben muss. Entstanden ist ein einzigartiges Dokument über den Wahnsinn des Kriegs. Gleichzeitig ist der Film eine berührende Sinnsuche. Selten ist ein Dokumentarfilm nämlich so persönlich wie «Chris the Swiss». Kofmel ist nicht nur die Filmemacherin, sie ist auch die junge Frau vor der Kamera, die verstehen möchte, wie sich ihr Cousin auf ein solches Himmelfahrtskommando einlassen konnte und sich fragt, wieso er ermordet wurde.

Der grandiose Dokumentarfilm «Chris the Swiss» wirft zwar mehr Fragen auf, als er beantworten kann. Doch darin liegt auch seine Stärke. Kofmel zeigt exemplarisch auf, wie das Weltgeschehen Auswirkungen auf den Mikrokosmos haben kann. Ihr Dokumentarfilm beginnt bei ihr selbst, weitet sich auf ihren Cousin und seine Familie aus. Im mittleren Teil arbeitet sie den Jugoslawienkrieg historisch auf und zeigt die Auswirkungen auf das Schicksal von Würtenberg. Gegen Ende findet Kofmel dann wieder zur ratlosen Familie und schliesslich zu sich selbst zurück. Und zwischendurch fragt man sich, ob sich Kofmel mit ihren Fragen nicht selbst in Gefahr begibt. So wie Mut und Verantwortungslosigkeit in «Chris the Swiss» immer wieder Hand in Hand gehen. Diese Kombination war demnach auch das bestimmende Motiv im Leben und Sterben von Würtenberg.

Fazit: «Chris the Swiss» ist eine gewagte Aufarbeitung eines persönlichen Traumas, das meisterhaft in den Abgrund des Krieges führt.

Bewertung: 6 Sterne

(Bilder: 2018 First Hand Films)

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