Locarno 08: «Nordwand» von Philipp Stölzl

«Nordwand» von Philipp Stölzl

[Erschienen am 9. August 2008, 23.06] Auf der Piazza Grande soll grosses Kino für Emotionen sorgen. Das Bergsteigerdrama «Nordwand» bietet sogar kolossales Hühnerhautkino – aber nur in der ersten Hälfte. Danach gleitet die Handlung in ein Schneegestöber aus zu dick aufgetragenen Klischees ab. Sehenswert ist die auf eine wahre Begebenheit beruhende Grossproduktion aus Deutschland und der Schweiz aber dennoch.

Im Sommer 1936 strebt der Führer nach dem Gipfel. Seine Arier lassen sich nur zu gerne von der Euphorie anstecken und wollen auf alle möglichen Arten die Überlegenheit der reinen Rasse beweisen. Ein verlockendes Ziel ist die Erstbesteigung der Eigernordwand, «dem letzten Problem der Alpen.» Der Chefredaktor (Ulrich Tukur) der Berliner Zeitung riecht die grosse Geschichte. Er setzt die aus Berchtesgaden stammende Volontärin Luise Fellner (Johanna Wokalek, «Der Baader-Meinhof-Komplex») auf ihre beiden Jugendfreunde Toni Kurz (Benno Fürmann) und Andi Hinterstoisser (Florian Kurz) an, die erfahrene und begeisterte Bergsteiger sind.

Nach ersten Bedenken brechen Kurz und Hinterstoisser in das Berner Oberland auf, um die Herausforderung anzunehmen. Im Basislager auf der Kleinen Scheidegg wartet schon die Konkurrenz. Ernst zu nehmen sind einzig Edi Rainer (Georg Friedrich) und Willy Angerer (Simon Schwarz) aus Österreich. Am 18. Juli steigen die beiden Seilschaften um 2 Uhr nachts in die Wand ein. Am nächsten Tag verfolgen Presse und andere Schaulustige das Spektakel von der sicheren Terrasse des Hotels aus.

«Nordwand» von Philipp Stölzl

Am ersten Tag kommen die Bergsteiger noch gut voran. Hinterstoisser verewigt sogar durch eine akrobatische Einlage seinen Namen in der Wand. Doch am zweiten Tag stockt das Unternehmen. Angerer sieht angeschlagen aus. Zudem schlägt langsam das Wetter um. Am Mittag des dritten Tages entscheiden sich die mittlerweile gemeinsam kämpfenden Seilschaften zur Umkehr. Doch einsetzender Schneefall, Lawinen und Steinschläge bedrohen die sichere Rückkehr.

Für einen überwältigenden Kinofilm gibt es an sich kein packenderes Material als den gescheiterten Erstbesteigungsversuch der Eigernordwand im Sommer 1936. Neben der Spannung am Berg können in diesem Fall auch noch der politisch brisante Hintergrund und die Ausschlachtung durch die zynischen Medien zu einem umfassenden Erlebnis verknüpft werden. Diese drei Komponenten haben die Filmemacher fast jederzeit im Griff. Sie sorgen vor allem in der ersten Hälfte durch munteres Tempo und treffende Dialoge für prickelndes und fesselndes Kino.

«Nordwand» von Philipp Stölzl

Dann wurde der Handlung aber unglücklicherweise auch noch eine kitschige Liebesbeziehung beigemischt. Die Figur der rasenden Reporterin Luise Fellner dient zunächst noch als emotionaler Anker, als dann aber die Jugendliebe inklusive Eifersuchtsszene und rühriger Abschiedsszene aufflammt, beginnt sich die Geschichte in Klisches zu verheddern. Wenn dann Luise am Schluss selbst in die Wand stürmt, um ihren Toni zu retten, verliert die Geschichte jegliche Glaubwürdigkeit.

Da wird am Ende die pure Dramatik des Überlebenskampfes durch unscharfe Romantik zugedeckt. Ist das wirklich nötig? Lechzt das Publikum tatsächlich nach so seichtem Herzschmerz? Die Geschichte der gescheiterten Besteigung ist doch an sich schon erschütternd genug. Da wirkt die fehlplatzierte Liebesbeziehung nur ablenkend. Zudem verliert sich die Handlung beim Abstieg in Details und unendliche Schmerzen. Das abgelutschteste Klischee der Filmgeschichte wird für die letzten Worte des sterbenden Kurz aufgespart: Er kann gerade noch stöhnen, dass er kalt habe. Dafür müsste es ein saftige Busse geben.

Die technische Umsetzung von «Nordwand» ist einwandfrei. Bei einigen Szenen ist zwar zu erahnen, dass sie in künstlichen Felsen entstanden sind, aber der Eindruck von bedrohlicher Kletterei bleibt immer bewahrt. Was die Szenen in der Wand betrifft, übertreffen sie bezüglich Authentizität sogar locker vergleichbare Produktionen aus Hollywood, wie etwa «Cliffhanger» (1993) oder «Vertical Limit» (2000). Viel Sorgfalt steckt deutlich erkennbar auch in der sorgfältigen Ausstattung. Da wird der Produktion auch verziehen, dass die Schweizer ein wenig wie Hinterwäldler dargestellt werden.

Fazit: «Nordwand» ist ein über weite Strecken mitreissendes Drama, das am Ende wegen verirrten Gefühlen den sicheren Abstieg verfehlt.

Bewertung: 4 Sterne

Ein Kommentar to “Locarno 08: «Nordwand» von Philipp Stölzl”

  1. Sir Michael says:

    Lechzt das publikum geradezu nach so seichtem Herzschmerz?Ja tut es. Lechtz das publikum wirklich nach so “vermeintlich großem Kino” wie es Filme wie z.B. The Fall, sein wollen.?
    Ich meinte mich im Kino mitten in der Wand,es ist wirklich so inszeniert als wäre man dabei .NORDWAND ist meineserachtens eine Vorbeugung vor dem alten Film, a la Luis Trenker, Arnold Frank. Deswegen auch die Liebesgeschichte. Ich könnte natürlich jetzt auch fragen warum in einem Bergfilm, Maschinengewehre a la cliffhanger gebraucht werden. Ist denn der Berg an sich nicht spannend genug?
    Ein technisch recht gelungener Film, der auch durch die besetzung des “Bodenpersonals” hervorsticht, nicht allein wegen Ulrich Tukur. Die gespräche der Tischgesellschaft sind mit Witz und politischem Hintergrund. Daraus entsteht Spannung, die Schauspieler sind mit Freude dabei.

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