Diagonale 10: «Little Friend» von Berthold Viertel

Nova Pilbeam in «Little Friend»

Fie, foh, fum, I smell the blood of an Englishman.

Es ist immer wieder erstaunlich, welche Kuriositäten in den Filmarchiven lagern. «Little Friend» von 1934 ist ein solches uneinheitliches Kleinod, das an der Diagonale 2010 zur Ehrung von Kameramann Günther Krampf das Licht der Leinwand wieder einmal erblickte. Die Mischung aus Aufklärungsfilm und Melodrama schildert die fürchterlichen Auswirkungen einer anstehenden Scheidung auf die Psyche eines Mädchens.

Der Film beginnt mit einem Traum der 14-jährigen Felicity (Nova Pilbeam), in dem sie von verschiedenen Erwachsenen ermahnt wird, die Regeln einzuhalten. Als sie erwacht, hört sie, dass die Stimmen aus dem Traum zum Teil von ihren Eltern stammen, die sich gerade streiten. Felicity schreit nach ihrer Mutter (Lydia Sherwood), die sie sofort beruhigt. Alles sei in Ordnung, und am nächsten Tag werden sie gemeinsam in den Park gehen. Doch am nächsten Tag ist die Mutter lange verschwunden, und der Vater (Matheson Lang) wird beim Mittagessen bereits ein wenig unruhig. Da taucht sie doch noch auf und erzählt, dass sie beim Schneider gewesen ist.

Wieder einen Tag später wird der Geburtstag des Grossvaters gefeiert. Der Vater nimmt ein Telefon des Schneiders entgegen. Die Mutter sei schon seit drei Tagen nicht mehr bei ihm gewesen. Felicity sagt für ihren Grossvater gerade ein Gedicht von John Milton auf, als der Vater seine Frau mit der Lüge konfrontiert. Er hat genug von diesem Theater und packt seine Koffer. Felicity ist verwirrt und versucht ihre Eltern zu versöhnen, indem sie ihnen selbst Lügen erzählt. Schliesslich findet sie heraus, dass ihre Mutter ein Verhältnis mit dem Schauspieler Hilliard (Arthur Margetson) hat. Mitten in der Nacht besucht sie ihn, um ihn dazu zu bringen, die Beziehung zu beenden. Da entdeckt sie den Pelzmantel ihrer Mutter in seinem Haus. Bestürzt flieht sie zu einem Freund. Der Vater ist empört über die Vorfälle und versucht, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen.

«Little Friend» ist ein durchwegs faszinierender Film, weil er anschaulich die Folgen eines elterlichen Konflikts aus der Perspektive eines Kindes zeigt. Die einzelnen Szenen sind dann zwar in ihrer Vermittlung der Botschaft nicht gerade sehr subtil, dadurch aber auch immer nachvollziehbar. Auf jede Aktion folgt auch ganz bestimmt die entsprechende Reaktion. Vorzüglich wird der Alltag der jungen Felicity in ihrer abgeschotteten Welt der britischen Upperclass geschildert. Tagsüber erhält sie von der Hauslehrerin Miss Drew (Jean Cadell) Unterricht in Klavier und Aussprache, am Abend wird sie von ihren Eltern verwöhnt und belogen. Die sind der Ansicht, dass ihre Tochter nicht erfahren darf, wie es um die Beziehung der Eltern steht. Dadurch richten sie nur noch mehr Schaden an.

Obschon das Thema sehr ernst ist, wird der Film dennoch durch einige humorvolle Szenen aufgelockert. Die sind teilweise sogar ein wenig subversiv. Einerseits wird Felicity von einem Laufjungen Leonard (Jimmy Hanley) das Leben gerettet. Er arbeitet im Süssigkeitenladen seiner Mutter und bietet einen starken Kontrast zur steifen Gesellschaft von Felicity, insbesondere in der Szene, in der sie den deutlich einen Akzent der Lowerclass sprechenden Leonard zur Weihnachtsfeier einlädt, an der sich ihre vornehmen Freunde über ihn lustig machen. Andererseits macht sich an der Gerichtsverhandlung der Butler des Schauspielers über den Anwalt (Cecil Parker, «The Ladykillers») des Vaters lustig. Auch sonst wird diese an und für sich höchst dramatische Szene immer wieder durch schiefe Momente unterlaufen, etwa wenn Felicity von Leonard erklärt wird, dass sich Zeugen vor Gericht oftmals nicht an gewisse Ereignisse erinnern können.

Wirklich störend am Film ist eigentlich nur die letzte Einstellung. Nachdem Felicity vor Gericht durch die ausserordentliche Belastung zusammengebrochen ist, wählt sie zu Hause den einzigen für sie noch ersichtlichen Ausweg aus ihrer Notlage. Schon früher hat sie sich bei Miss Drew einmal erkundigt, was geschehen würde, wenn die Gasheizung nicht sorgfältig abgestellt wird. Von da an ist klar, dass es an einem Punkt im Film zu einem Selbtsmordversuch kommen muss. Der scheitert natürlich. Die direkte Folge davon ist aber, dass die Familie dadurch wieder zusammengeführt wird. Die etwas heikle Botschaft von dieser Schlussszene: Kinder, die nicht möchten, dass sich ihre Eltern trennen, müssen einfach versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Bewertung: 4 Sterne

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