«L’autre moitié» von Rolando Colla

«Lautre moitié»Migration ist das wiederkehrende Thema in den Werken von Rolando Colla. Auch in «L’autre moitié» erzählt der Schweizer Regisseur von Grenzgängern. Das über weite Strecken gelungene Drama über zwei entfremdete Brüder stellt die Frage nach der Identität von Menschen, die in verschiedenen Kulturen aufgewachsen sind.

Der 40-jährige Algerier Hamid lebt in Brüssel und arbeitet als Kurier für ein Hawala-Netzwerk, durch das arabische Organisationen illegal Geld überweisen und das im Verdacht steht, Terrorakte zu finanzieren. Als er einen Anruf von seinem Bruder Louis aus der Schweiz erhält, den er 35 Jahre lang nicht mehr gesehen hat, vermutet er zuerst die Polizei hinter dem Anruf. Er reist dennoch zu Louis, weil er hofft, seine angeblich schwer verletzt im Spital liegende Mutter noch zu treffen, bevor es zu spät ist. Doch die Mutter lebt schon nicht mehr.

Als Hamid erfährt, das seine Mutter bereits gestorben ist, will er nach Brüssel zurück. Aber die Brüder geraten in eine Polizeikontrolle und Hamid wird verhaftet und verhört. Er soll über das Netzwerk und über seine Arbeit als Kurier Auskunft geben, doch er weigert sich. Am nächsten Tag kommt er gegen Kaution wieder frei. Er weiss jetzt, dass die Polizei tatsächlich hinter ihm her ist, aber viel lieber wüsste er, welche Rolle sein Bruder, der die Kaution von 30’000 Franken hinterlegt hat, in der Sache spielt.

Die Stärken des Films von Rolando Colla liegen eindeutig in der Auseinandersetzung der beiden Brüder, dem von Colla beabsichtigten «Annäherungskampf». Der Regisseur und Drehbuchautor erzählt die Geschichte einer gescheiterten Migration. Louis ist bei seiner Schweizer Mutter aufgewachsen, Hamid nach dem Tod seines Vaters beim Grossvater in Algerien. Nachdem er wegen seiner Zugehörigkeit zur islamistischen FIS (Front islamique du Salut) im Gefängnis gelandet ist, flüchtete er nach Europa. Dort bewegt er sich ebenfalls in einem Grenzbereich der Legalität.

Die ungleichen Erfahrungen in ihrem Leben sorgen dafür, dass die Brüder durch unterschiedliche Erwartungen und Kulturen getrennt werden. Dennoch möchten sie gerne mehr über ihre «andere Hälfte» erfahren. Die Herantastung zwischen Neugier und Ablehnung, Misstrauen und Zuversicht gestaltet Colla beklemmend und eindringlich. Zornig fragt Hamid an einer Stelle: «Qu’est-ce que c’est, un frére?» Während Louis aus der Verwandschaft automatisch eine untrennbare Beziehung ableitet, steht Hamid dem Konzept dieser vertrauten Brüderschaft skeptisch gegenüber. Aus der Konfrontation zwischen dem emotional abgekapselten Hamid und dem aufdringlich aufgeschlossenen Louis erzeugt Colla eine fesselnde Spannung.

Da Colla sein Brüderdrama allerdings als Politthriller angelegt hat, verliert sich die Handlung gegen Ende in den Konventionen des selbstauferlegten Genres. Daran droht der Film beinahe zu zerbrechen. So wird die zuvor sehr subtil eingestreute politische Botschaft durch Einsatz einer Spezialeinheit der Polizei und eine Flucht mit ungelenkem Schusswechsel überdeutlich ausformuliert. Wie schon in «Oltre il confine» lässt Colla gegen Schluss die Fäden ein wenig entgleiten. Der zuvor meist straff gestalteten und nüchternen Inszenierung wird eine unnötig überspannte Dramatik aufgezwungen.

Fazit: «L’autre moitié» ist ein bewegendes Drama, in dem der Kampf der Kulturen konsequent auf eine Bruderbeziehung heruntergebrochen wird.

Bewertung: 4 Sterne

Das Drama «L’autre moitié» reiht sich sehr direkt in das übrige Schaffen von Colla, der seit seinem Kurzfilm Kurzfilm «Jagdzeit» (1994) immer wieder zum Thema der Migration zurückkehrt. Im an mehreren Festival ausgezeichneten Drama «Jagdzeit» schildert er den Fremdenhass von ein paar provinziellen Jugendlichen, die gleichzeitig auf die fleissig arbeitenden Jahresaufenthalter aus Italien als auch auf die Zuflucht suchenden Asylanten einprügeln wollen.

«Einspruch I–V»

Auf die unsichere Situation der Asylbewerber geht Colla auch in der Kurzfilmreihe «Einspruch I–V» (1999–2006) ein. Ein Abgewiesener wird als Böögg verbrannt, ein anderer zündet sich in einer Telefonkabine am Bellevue in Zürich an, ein dritter erstickt bei der versuchten Ausschaffung. Die Vorgänge an der Grenze, wo Immigranten ohne Verfahren abgewiesen werden, kommentiert Colla in «Einspruch III» sarkastisch durch Gelächter aus der Dose. Ernüchtert wird schliesslich in «Einspruch V» die Vermutung aufgestellt, dass die Angst vor Strafverfolgung die menschliche Solidarität aushebelt. Die fünf Kurzfilme sind auf einer DVD mit «Jagdzeit» erhältlich.

Im Spielfilm «Oltre il confine» (2002) werden gleich mehrere Grenzen überschritten. Der Bosnier Reuf ist 1993 während dem Bosnienkrieg nach Italien geflüchtet. Dort hält er sich mit seiner älteren Tochter illegal auf, die jüngere Tochter ist noch in einem Spital im kriegszerstörten Bosnien. Unterstützung erhält er von der Architektin Agnese, die sich bereit erklärt, die Tochter aus Bosnien nach Italien zu holen. Derweil versucht Reuf in die Schweiz zu gelangen, um dort politisches Asyl zu ersuchen.

Bewertung «Jagdzeit»: 5 Sterne
Bewertung «Einspruch I–V»: 5 Sterne
Bild-/Tonqualität: 4 Sterne
Bonusmaterial:
0 Sterne

Bewertung «Oltre il confine»: 4 Sterne
Bild-/Tonqualität: 4 Sterne
Bonusmaterial:
2 Sterne

2 Kommentare to “«L’autre moitié» von Rolando Colla”

  1. rogerrabbit says:

    Den Film habe ich gesehen. Sehenswerter CH-Film.

  2. rogerrabbit says:

    «L’autre moitié» meine ich.

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